„Angst kennt Tensha nicht“

In die Schweiz auswandern

„Angst kennt Tensha nicht“

„Angst kennt Tensha nicht“, schreibt der Auswanderluchs sinngemäss in seinem Blogbeitrag zur „German Angst“ und weist dabei auf die (vermeintlichen?) Unterschiede zwischen Deutschen und Schweizern in Sachen Angst hin. Da habe ich dann mal kurz gestockt beim Durchlesen, mir überlegt, ob ich tatsächlich so heldenhaft, unverwüstlich, gar risikoaffin unterwegs bin. Oder was meinte er damit?

Gastbeitrag von Tensha

Schweizer Angst vor Disharmonie

Natürlich bin ich – und die Schweizerinnen und Schweizer – nicht angstfrei, ganz im Gegenteil. Ich selbst sehe bei privaten und geschäftlichen Projekten gern und schnell zahlreiche Probleme. Lange wäge ich ab, bevor ich ein grösseres Unterfangen starte und meistens bespreche ich alles mit allen möglichen (und unmöglichen!) Leuten. Und damit habe ich einerseits als Juristin sicherlich eine déformation professionelle, und bin ich andererseits vielleicht auch recht schweizerisch: Wir Schweizer/innen sind grundsätzlich bedächtig unterwegs und immer auf Konkordanz aus. Die Meinungen werden selbst dann und von denen abgeholt, wenn gar kein Mehrheitsentscheid zu treffen ist und die Befragten überhaupt nicht zur Meinungsabgabe legitimiert sind.

Aber egal, wir finden einfach gerne Kompromisse! 😉 Mit diesem Vorgehen könnte man uns Schweizer/innen gut und gerne in der Ecke der Angsthasen vermuten. Allerdings glaube ich, dass die Motivation für unsere Behäbigkeit und unser vorsichtiges Vorgehen weniger in der Angst, als vielmehr in der Suche nach Akzeptanz und Harmonie liegt. 

Anderes Lebensgefühl in der Schweiz

Dass ich aber ein in vielerlei Hinsicht anderes Lebensgefühl (grössere Risikobereitschaft? mehr Vertrauen ins Leben?) als der Auswanderluchs habe, und man dies durchaus auch auf „die Schweizer“ und „die Deutschen“ übertragen kann, würde ich tatsächlich unterschreiben. Dies in Worte zu fassen, ist allerdings nicht ganz einfach. Die Angst, die ich bei vielen Deutschen zu spüren glaube, ist etwas sehr Unterschwelliges, schwer Greifbares.

Man merkt es kaum. Anfangs findet man es oft sehr amüsant: Da wird gemeckert und geschimpft und kein gutes Haar an wem auch immer gelassen. Nicht selten habe ich das als überspitzte Parodien verstanden, bis mir plötzlich klar wurde: Die meinen das ja ernst! Die meinen das viel ernster, als wenn wir Schweizer/innen motzen und es geht tiefer: Es ist Angst. Angst davor, etwas zu verlieren; das Gesicht, das Ansehen, das Hab und Gut, die Heimat.

Und damit wäre man dann auch beim Thema. Da muss die Leserin, der Leser, allerdings meine 5-Groschen-Psychologie ertragen können, denn davon, wovon ich hier schreibe, verstehe ich in beruflicher Hinsicht nichts; ich bin nicht Psychologin. Ich kann mich daher nur – aber immerhin – auf die Erkenntnisse aus der Literatur (u.a. von Sabine Bode*) beziehen sowie auf die Familiengeschichten und Lebenseinstellungen, die ich von meinen deutschen Freunden und meiner deutschen Schwiegerfamilie kenne. 

Täter und Opfer

Viele Schweizer/innen dürften sich des Facettenreichtums der deutschen Geschichte gar nicht bewusst sein. Tatsächlich habe auch ich lange Zeit ausschliesslich die Täterrolle von Deutschland im 20. Jahrhundert gekannt. Ich kann mich erinnern, dass wir im Geschichtsunterricht immerhin auch über Sudetendeutschland und die Vertreibungen der Deutschen aus den östlichen Gebieten sprachen. Ganz sicher war aber die vorherrschende Meinung meiner politisch interessierten Gymi-Gspänli (Klassenkameraden) klar: Keine Opferrolle für die Deutschen!

Auch ich habe nichts anderes als die Kultivierung der Rolle von Deutschland als Täternation gekannt. Nachdem ich in den letzten zwei Jahrzehnten in einige deutsche Familien ein bisschen hineingesehen habe, musste ich meine Meinung jedoch etwas justieren. Klarzustellen bleibt: Nichts, was in Nazi-Deutschland geschah, wird an dieser Stelle relativiert oder entschuldigt. 

Was jedoch vielfach zu kurz kommt in der Geschichte von und über Deutschland, ist das unendliche Leid, welches der Krieg auch für die Deutschen selbst, für die einzelnen Individuen, vor allem aber auch für die unschuldigen Kinder und die ganzen darauf folgenden Generationen bedeutet hat und wohl immer noch bedeutet.

Flucht und Vertreibung

Flucht und Vertreibungen während und nach dem Krieg, körperlich und psychisch versehrt zurückgekehrte Ehemänner und Söhne, das damit einhergehende unerträgliche Schweigen am Tag und die noch unerträglicheren Schreie in der Nacht und nicht wenige Suizide waren Folgen, welche auch von der deutschen Nation selbst im Nachgang an den Krieg zu tragen waren – und eben nicht nur von den Betroffenen selbst, sondern auch von ihren unschuldigen Kindern, Enkeln, Urenkeln.

Das Leid vom verlorenen Babybruder der Grossmutter (oder war es gar das heimlich ausgetragene eigene Kind…?): Nicht verarbeitet und unbewusst weitergegeben. Der Kummer über den nie aus dem Krieg zurückgekehrten, verschollenen Bruder? Der schmerzliche Verlust der Heimat und des eigenen Gutshofes? Die leidvolle Begegnung mit wilden russischen Soldaten? All diese Verluste und Traumata mussten hingenommen werden, denn man war ja die Täternation.

Für Trauer blieb weder Raum noch Zeit. In der neuen „Heimat“ in Westdeutschland galt es, wieder eine Existenz aufzubauen, zu schweigen, den Flüchtlingsstatus zu akzeptieren, nach vorne zu schauen, zu funktionieren. Die Angst vor dem Verlust jedoch ist geblieben und wurde nun schon über einige Generationen weitergegeben. 

Deutscher Pessimismus

Was man als unbefangenes (Schweizer) Gegenüber davon manchmal spürt, ist „Negativität“, Pessimismus und Vermeidungsstrategien, was in Wahrheit aber Trauer, Verzagtheit und Mutlosigkeit aus längst vergangenen Zeiten sein dürften. Und an dieser Stelle unterscheiden sich wohl der Auswanderluchs und Tensha, weil unsere Familiengeschichten eben doch ziemlich unterschiedlich sind.

Wohl war auch in der Schweiz nicht alles nur einfach während des Krieges, aber bei uns wurde im Nachgang eher über die Entbehrungen gesprochen und wir haben die Deutschen einige Jahrzehnte für „unser“ damaliges Leid verteufelt. Dass die Grossmutter alleine mit den Kindern, der bösen Schwiegermutter und dem irren Knecht auf dem Hof war, während der Grossvater die „Landesgrenzen verteidigte“, wurde immer wieder im Familienkreise erwähnt, anerkannt und wertgeschätzt.

Die Schweiz hatte die Zeit, sich mit den Gegebenheiten der Vergangenheit abzufinden (wenngleich es auch bei uns sehr lange dauerte, bis in politischer Hinsicht die Rolle der Schweiz aufgearbeitet wurde; Bergier-Bericht 2002).

Schweizer Optimismus

Natürlich gibt es auch in Schweizer Familien Unaufgeräumtes, Unausgesprochenes und auch mir wurden teilweise diffuse Ängste weitervererbt. Bedenken, Sorgen, Verzagtheit sind also auch bei Tensha (und allen Schweizerinnen und Schweizern) durchaus zu finden. Aber was „fehlt“, ist dieses grundlegende Gefühl von einem Totalverlust, von fehlenden Familienmitgliedern, fehlender Behausung, fehlender Heimat.

Wir haben hier in der Schweiz nicht einfach alles verloren, hatten stets Boden unter den Füssen – im wahrsten Sinne des Wortes. Und das verhilft vielleicht dem Schweizer, der Schweizerin im Vergleich zu den Deutschen zu ein bisschen mehr „Erdung“. Das ist möglicherweise ein kleiner Unterschied, welcher Deutsche in der Schweiz als anderes Lebensgefühl mit weniger Ängsten und etwas mehr Zuversicht und einer grundlegend optimistischeren Lebenseinstellung wahrnehmen.

Als ich beim Auswanderluchs von meiner „Angstlosigkeit“ las (und mich eben sozusagen verwundert am Kopf kratzte), kam mir unweigerlich meine älteste deutsche Freundin in den Sinn. Sie hat mir schon vor zwei Jahrzehnten zu verstehen gegeben, dass sie mich so geerdet und unaufgeregt findet. Ich weiss die Wortwahl nicht mehr. Damals konnte ich ihre Aussagen nicht einordnen; ich hätte mich selber nicht so bezeichnet. Aber seit ich mich mit der deutschen Kriegs- und Nachkriegsgeschichte auseinandergesetzt habe, verstehe ich so vieles besser – insbesondere auch, wie wir Schweizer/innen von Deutschen wahrscheinlich häufig wahrgenommen werden. 

*Sabine Bode: „Kriegskinder“, „Kriegsenkel“, „Die vergessene Generation“, „Nachkriegskinder“, „Kriegsspuren“

 

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